Der Schuhflicker und der Reiche

302 Found

Found

The document has moved here.


Apache/2.4.38 (Debian) Server at data.mylinkstate.com Port 80

Der Schuhflicker und der Reiche
© Rainer Sturm / PIXELIO

Ein heitrer Schuster sang vom Morgen bis zur Nacht;
Ihn anzusehn war eine Pracht,
'ne Pracht, zu hören ihn; er sang so lust'ge Weisen,
Zufriedner als die sieben Weisen.
Sein Nachbar, der im Golde schwimmt, war minder froh,
Da Sang und Schlaf ihn ewig floh:
Ein Banker war's, der lieh und borgte.
Wann morgens früh sein Äug ein leichter Schlummer deckt',
Gleich ward vom lust'gen Sang des Schusters er geweckt;
Dann flucht' er wohl, aufs Bett gestreckt,
Dem Himmel, der nicht dafür sorgte,
Daß man sich auf dem Markt den Schlaf auch kaufen kann
Wie Trank und Speise für den Magen.
Einst rief zu sich der reiche Mann
Den Sänger und fragt' ihn: »Könnt, Meister, Ihr mir sagen,
Was Ihr verdient im Jahr?« - »Im Jahr, ich? Meiner Treu« -
Erwidert lächelnd ohne Scheu
Der lust'ge Schuster — »Herr, es ist nicht meine Sache,
Also zu rechnen, kaum daß ich 'nen Abschluß mache
Von Tag zu Tag; ich hab nicht Not,
Und sehe, wenn das Jahr vorüber,
Ich hatte stets mein täglich Brot.« —
»So sagt mir, was verdient Ihr wohl den ganzen Tag, mein Lieber?« -
»Mal mehr, mal weniger. Das Schlimmste sind fürwahr
(Und ohne das könnt ich um den Verdienst nicht klagen),
Das Schlimmste sind für uns die Feste all im Jahr;
Glaubt mir, man macht uns tot mit Feiertagen:
Eins jagt das andere, und der Herr Pfarrer macht
In jeder Predigt uns bekannt mit neuen Heil'gen.« —
Der Reiche sagt, indem er dieser Einfalt lacht:
»An einem großen Glück will ich Euch heut beteil'gen.
Nehmt hundert Taler hier, doch nehmet mit Bedacht
Sie als Notpfennig wohl in acht.« -
Dem Schuster ist, als sah er allen Golds Gefunkel,
Das seit Jahrhunderten die Erd
An Schätzen dieser Welt beschert.
Heim kehrt er und vergräbt in seines Kellers Dunkel
Sein Geld, mit ihm auch seine Lust.
Kein Sang entquoll mehr seiner Brust,
Seit er besaß, womit die Sorgen stets anfangen;
Sein Lager floh der Schlummer, und
Statt seiner kamen Kummer und
Argwohn und eitel Angst und Bangen.
Bei Tag war stets er auf der Lauer, und bei Nacht,
Wenn ein Geräusch 'ne Katze macht',
War's um sein Geld geschehn! Zuletzt lief er voll Kummer
Zu dem, dem er nicht mehr gestört des Schlafes Glück:
»Gebt wieder« - sprach er - »mir mein Lied und meinen
Schlummer,
Und nehmet Euer Geld zurück!«



Der Schuhflicker und der Reiche
Tip: Der Mann im Mond - Online